Abends in den Nachtzug steigen und morgens am Zielort ankommen. Spätestens wenn das Reisen im Nachtzug flächendeckend möglich ist, sind Kurzstreckenflüge überflüssig. Leider gibt es nur noch sehr wenige Nachtzüge und nicht jede Komfortkategorie ist genießbar. Ein Erfahrungsbericht aus dem Sitzwagen des ÖBB Nightjet zwischen Innsbruck und Hamburg.
Nach einem Abendessen zu Hause stehe ich mit geputzten Zähnen am Innsbrucker Hauptbahnhof. Ein lang gezogenes Quietschen hallt über den Bahnsteig und die Tür des dunkelblauen Nightjets kommt vor mir zum Stehen. Die Sonne ist gerade hinter den Berggipfeln abgetaucht, als ich die Abteiltür des Sitzwagens zur Seite drücke. Der Innenraum wirkt vertraut. Blaue Sitzpolster, graue Metallmülleimer und Fake-Holz-Blenden auf ausklappbaren Tischen. All das kenne ich aus den alten Eurocity-Zügen. Mein Sitzplatz ist die 35 am Fenster. Eine Sitzplatzreservierung ist bei jedem Ticket des Nightjets inklusive. In den anliegenden Abteilen rumpelt und rattert es. Koffer werden verstaut und Rückenlehnen verstellt. In meinem 6er-Abteil ist es noch ruhig.
Zu dritt im Sitzwagen
Mit einem Rumpeln fährt die Schiebetür zur Seite und ein schwarzer Hartschalenkoffer wird hereingeschoben. „Moin!“, ein großer Mann in Motorradklamotten steht jetzt mitten im Abteil und wuchtet Helme, Koffer und Taschen auf die Ablagen über uns. Er und seine Frau waren mit dem Motorrad in den Alpen unterwegs und fahren jetzt mit dem Nachtzug zurück nach Hamburg. Das Motorrad steht auf dem Fahrzeuganhänger am Ende des Zugs.
„Sind Sie schon geimpft?“, nuschelt der Mann durch seine FFP2-Maske. „Ja, hab beide Dosen schon bekommen.“, „Super, wir auch. Dann können wir die ja abnehmen.“ Er zieht sich die Maske aus dem Gesicht und lässt sich in den Sitz schräg gegenüber fallen. Auch ich nehme die Maske ab. „Das passt ja super, da hat dann jeder von uns zwei Sitze und wir können alle die Füße hochlegen“, triumphiert seine Frau, die gerade ins Abteil stolpert, als sich der Zug in Bewegung setzt. Eigentlich wollte das Ehepaar aus Hamburg genau wie ich einen Platz im Liegewagen, aber der war schon ausgebucht. Unsere Unterhaltung wird von einer Durchsage unterbrochen.
Reisen im Nachtzug: Die Nachtruhe
„…das war die letzte Durchsage für heute, weil wir zwischen 22 Uhr und 8 Uhr Nachtruhe haben. In dieser Zeit werden wir Sie nicht weiter stören.“ Das klingt vielversprechend. Ruhe bis morgen früh. Wir legen die Sitze um und schließen die Vorhänge. Leider lassen sich die Rückenlehnen nicht komplett flach machen und mit einer Körpergröße von über 1,80 Meter kann ich mich auch nicht ganz ausstrecken. Zu warm ist es auch, obwohl wir den Temperaturregler des Abteils komplett nach links gedreht haben. Immerhin kann ich meine Beine auf den Sitz gegenüber legen.
Liegen im Sitzwagen
Ich wälze mich hin und her, bis ich eine einigermaßen angenehme Liegeposition gefunden habe. Meine Stoffmaske für Mund und Nase habe ich zur Augenmaske umfunktioniert. Immer wieder nicke ich weg. Alle viertel Stunde muss ich meine Liegeposition anpassen, weil mir sämtliche Gliedmaßen einschlafen. Dabei stoße ich mit den Knien oder dem Rücken immer wieder an den Mülleimer. Ein klarer Nachteil des Fensterplatzes. Mit meiner Sitzplatzwahl wollte ich vermeiden, dass ich im Weg liege, wenn jemand aus dem Abteil zur Toilette muss. Ich bin mir nicht mehr sicher, was ich unangenehmer finde, den Mülleimer im Rücken oder Menschen, die über mich drüber steigen. Lange kann ich darüber nicht nachdenken, denn als der Nachtzug Augsburg erreicht, wird mir klar, wie komfortabel meine Position trotz allem war.
Reisen im Nachtzug: Nächtlicher Besuch
Rumms. Die Tür geht auf. Ratsch. Der Vorhang fliegt zur Seite. Wie ein hilfloser Käfer liege ich auf dem Rücken und blinzle an meiner Maske vorbei in das Licht am Gang. „Ähm, Entschuldigung, wir haben hier reserviert“, dringt eine Stimme aus dem Gang. Ich ziehe die Maske vom Gesicht und versuche mich aufzurichten. Der Mann mit den Motorradklamotten hat abrupt aufgehört zu schnarchen. Mit der linken Hand tastet er jetzt sein Gesicht ab und zupft die OP-Maske von den Augen. Den „Trick“ mit der Maske hat er sich vielleicht von mir abgeschaut.
Die Frau in der Tür spricht weiter: „Wir haben hier drei Sitzplätze für mich und meinen Sohn reserviert. Ich glaube, sie liegen auf unseren Plätzen.“ Jetzt geht auch das Licht im Abteil an. Nachdem wir alle unsere Tickets verglichen haben, stellen wir fest: Wir sind hier alle richtig, das Abteil ist ausgebucht. Das Kind Niklas bekommt die zwei Sitzplätze in der Mitte und kann im Liegen schlafen, die Mutter setzt sich mir gegenüber. „Tja, manchmal hat man Glück, aber beim Reisen im Nachtzug weiß man es eben nie“, damit beendet die Mutter jegliche Konversationen im Abteil. Es ist 23:24 Uhr und mir wird bewusst: Die nächsten neun Stunden werde ich sitzen wie bei einem Langstreckenflug. Immerhin hat das Reisen im Nachtzug eine bessere Klimabilanz und verursacht weniger Lärm. (Mehr dazu: Ein Morgen ohne Donner)
Sitzen im Sitzwagen
Was habe ich denn vom Reisen im Nachtzug erwartet? Dass ich im Sitzwagen liegen kann? Dass die Abteile zu Zeiten einer globalen Pandemie nur zur Hälfte besetzt werden? Zumindest habe ich es gehofft. Die nächsten Stunden befinde ich mich in einer Art Delirium. Mein Kopf knickt mal nach links und mal nach rechts zur Seite. Immerhin ist es im Abteil jetzt deutlich kühler, die Klimaanlage scheint nach drei Stunden Wirkung zu zeigen. Irgendwann klappe ich den Tisch vor mir aus und versuche meinen Oberkörper darauf abzulegen. Die Tischkante drückt mir in die Rippen, aber ich schlafe irgendwann halbwegs ein. (Für Autorin Petra Daisenberger war das Reisen im Nachtzug angenehmer: Übernacht von den Bergen ans Meer)
Um 5:30 weckt mich ein Summen. Das Summen wird lauter. Ich hebe die Maske über meinen Augen etwas an. Auf meinem linken Oberschenkel liegt der Fuß von Niklas und das Summen dringt aus dem Rucksack neben mir. Nach etwa zehn Minuten sind alle im Abteil wach und starren auf den Rucksack. Als die Mutter endlich das Handy aus dem Rucksack holt und es deaktiviert, kommen die ersten Sonnenstrahlen durchs Fenster. Und weil sie gerade schon dabei ist im Rucksack herumzukramen, holt sie jetzt auch noch ihren Laptop hervor und fängt an zu tippen. Nach einer viertel Stunde ist der Laptop aufgeklappt und ihre Augen wieder zu.
Hannover du bist die Rettung!
Der Nachtzug wird langsamer und kommt zum Stehen. Hannover Hbf steht auf dem blauen Bahnhofsschild vor unserem Fenster. Plötzlich klappt die Mutter ihren Laptop zu, stopft ihn in den Rucksack und rüttelt Niklas wach. „Wir sind da. Schnell zieh dir deine Schuhe an Niklas.“ Sie springt auf und zerrt den Koffer von der Ablage. Das Ehepaar in Motorradklamotten kann gerade noch die Beine einziehen, da rumpeln Mutter und Kind schon aus dem Abteil. „Gute Fahrt noch!“ Und weg sind sie. (Mehr zu Nachtzügen in Europa: Mit dem Zug durch Europa)
Vorsichtig strecke ich meine Beine nach vorne. Geradeso als würde ich meinem Glück noch nicht ganz trauen. Meine Knie knacken. Auch das Ehepaar neben mir breitet sich langsam wieder aus. Die letzten zwei Stunden werden wir hier noch das Maximum an Komfort rausholen. Schlafen kann ich nicht mehr. Als ich in Hamburg aus dem Zug steige, fühle ich mich wie nach einer durchzechten Nacht auf der Reeperbahn, nur das meine Klamotten nicht nach Zigarettenrauch stinken. Mein einziger Hoffnungsschimmer: Für die Rückfahrt nach Innsbruck habe ich einen Platz im Liegewagen. Wie das gelaufen ist, dazu mehr im nächsten Beitrag.
Disclaimer: Regulär kostet eine Fahrt von Innsbruck nach Hamburg im Sitzwagen 109 Euro. Mit meiner Bahncard 50 waren es 63 Euro. Manchmal gibt es auch Sparpreise für ca. 70 Euro. Die ÖBB hatte keinen Einfluss auf diesen Beitrag. Alle Fotos sind selbstgemacht.